Die Flüchtlingsdampfer der Reederei H. M. Gehrckens 1945

Peter Hartung
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Die Flüchtlingsdampfer der Reederei H. M. Gehrckens 1945

Beitrag von Peter Hartung »

Die Flüchtlingsdampfer der Reederei H. M. Gehrckens 1945

Nach den Erinnerungen von Kapitän Kurt Timm: Die Gehrckens-Schiffe "SÖDERHAMN" und "PICKHUBEN" retteten Tausende Flüchtlinge.

Der Untergang der "Wilhelm Gustloff" war bekanntlich nicht die einzige Schiffskatastrophe in den letzten Kriegswochen des Jahres 1945. Das gleiche sowjetische U-Boot, das die "Gustloff" versenkte, torpedierte am 10. Februar 1945 auch die "Steuben" - mit etwa 4 000 Flüchtlingen an Bord. Am 16. April 1945 sank der Frachter "Goya" und riss schätzungsweise 7000 Flüchtlinge aus West- und Ostpreußen und Soldaten in den Tod. Jüngste Schätzungen gehen von insgesamt rund 40 000 Menschen aus, die bei der Flucht über die Ostsee den Tod fanden.

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Das angeblich letzte Photo von der "Wilhelm Gustloff" im Hafen von Gdynia (Gotenhafen) ca. am 28. 1. 1945. Bildnachweis: Chronik des Seekrieges 1939-1945, Hg. Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart 2007.

Was nicht vergessen werden darf: Zwischen Januar und Mai 1945 schafften es 800.000 bis 900.000 Flüchtlinge sowie 350.000 Verwundete über See den "rettenden Westen" zu erreichen. Drei bis vier Millionen Deutsche in Ostpreußen, Danzig und Pommem gerieten aber in den Herrschaftsbereich der Roten Armee. Viele von ihnen wurden in Lager gepfercht und fast alle bis Ende der vierziger Jahre aus der Heimat vertrieben. Die von interessierter Seite verbreitete Legende, einem Befehl des Oberbefehlshabers der deutschen Kriegsmarine, Großadmiral Karl Dönitz, sei es zu verdanken, dass zwei Millionen Flüchtlinge gerettet werden konnten, ist falsch. Vielmehr hatten die Kriegsverbrecher Dönitz und Hitler selbst Ende Januar 1945 vereinbart, dass militärische Transporte in der Ostsee vor den Flüchtlingstransporten absolute Priorität haben sollten.

Nur dem Mut der mittleren und unteren Marinestellen war es letztlich zu verdanken, dass viele Zivilisten in den "rettenden Westen" kamen. Zu verdanken war dies aber auch der Entschlossenheit und dem Können einiger Kapitäne der Handelsmarine. Zwei von ihnen waren Kapitän Kurt Timm von der "Södenhamm" (1499 BRT) und Kapitän J. Matthies von der "Pickhuben" (999 BRT). Die beiden kleinen Dampfschiffe gehörten der Hamburger Reederei H. M. Gehrckens.

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Dampfer "SÖDERHAMN" (1.499 BRT) von H. M. Gehrckens. Kapitän Kurt Timm. Bildnachweis: Erik Verg, Unter der blauen Flagge, Hamburg 1980

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Kapitän Kurt Timm. Bildnachweis: Erik Verg, Unter der blauen Flagge, Hamburg 1980

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HMG-Dampfer "SÖDERHAMN". Foto: Sammlung Norbert Röth, Rottorf.

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HMG-Frachtdampfer "PICKHUBEN" (1), 999 BRT, Kapitän J. Matthies. Foto: Sammlung Norbert Röth, Rottorf.

Kapitän Kurt Timm brachte mit der alten "Söderhamn" (Baujahr 1899) während sieben Reisen von Januar bis April 1945 fast zwanzigtausend von der Flucht aus Ostpreussen und Pommern erschöpfte Menschen mit seinem Schiff sicher über die Ostsee nach Schleswig-Holsten und Mecklenburg. Kapitän Matthies rettete rund 16.000 Menschen mit seiner "Pickhuben".

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Die Kriegslage in Ostpreussen im Januar 1945.Bildnachweis: Sammlung Peter Hartung aus "Chronik des Seekrieges 1939-1945", Hg. Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart 2007.

Kapitän Kurt Timm:
"Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg (Als Kapitän)"

Beginn der Flüchtlingsfahrten und die Vorbereitung

Bei Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 lagen wir im Frühjahr im Gelände der Danziger Werft und hatten gerade die große Reparatur hinter uns. In der Danziger Bucht hatten wir einen sehr großen Schaden an unserem Schiff erlitten und waren nur mit ganz großem Glück dem Untergang entkommen --- bei sehr stürmischem Südwind! Jedenfalls war unsere Bordwand im Raum 3 von oben bis an die Bilge (Sammelraum für Lecköl und Wasser im Maschinenraum über dem Doppelboden) hinunter aufgeschnitten und der Raum sofort voll Wasser gelaufen. Gottlob hielt unser wasserdichtes Querschott dem großen Druck stand und unser Schifflein blieb an der Wasseroberfläche! in allerletzter Sekunde war es mir denn doch noch gelungen mit "Voll Voraus" das Schiff für kurze Zeit etwas vor zu ziehen, sonst wäre der fremde Dampfer genau in unsere Maschine hineingefahren! Und wir wären sofort gesunken. Es wäre ein böses Drama geworden. Und dabei hatten unsere Ankerlaternen (abgeblendet nach Vorschrift) hell und klar gebrannt! Na, dies war ja nun alles wieder repariert. Gegen Abend erhielten wir Order, am nächsten Morgen hier in der Werft Flüchtlinge zu übernehmen. In einer Nacht bauten unsere paar Besatzungsleute im Vorschiff zwei große starke Treppen im Unterraum vorn bei Luke 1 und 2, und zwei Treppen vom Deck ins Zwischendeck! Auch im Achterschiff wurde vom Deck aus eine ganz schwere lange Treppe in den Raum hinunter gebaut. Aber irgendwie bekamen wir dann doch noch Hilfe und man setzte uns auf das Vor- und Achterdeck insgesamt zehn Toiletten. Das war auch bitternotwendig. Natürlich war alles recht primitiv, aber das spielte in diesem Notfalle bestimmt keine große Rolle! Dann warteten wir aber mehrere Stunden auf die Flüchtlinge, und endlich erfuhr ich, daß der Pförtner keine Menschen in das Werftgelände herein ließ. Vom nächsten Telefon aus sprach ich dann mit dem Herrn, und damit war das Mißverständnis denn auch sehr schnell bereinigt! Bald darauf kamen die teilweise halberfrorenen Menschen durch den stellenweise meterhohen Schnee bei minus 14 bis 18 Grad zu uns an Bord. Aber warm war es ja auch an Bord nicht, obwohl unsere Luken weitgehend zugedeckt waren. Allmählich wurde es nach kurzer Zeit doch recht anheimelnd durch die vielen Menschen. Natürlich wurden die Ärmsten gleich weitgehend versorgt.

Bild
Letzte Hoffnung für Hunderttausende, ein Schiff Richtung Westen. Am oberen rechten Bildrand ist mutmaßlich die "PICKHUBEN" zu erkennen. Bildnachweis: Erik Verg, Unter der blauen Flagge, Hamburg 1980

Fortsetzung folgt.

mfg Peter Hartung

Quellenverzeichnis: Sammlung Kapitän Oliver Timm, Moers; Erinnerungen und Aufzeichnungen von Kapitän Kurt Timm; Chronik des Seekrieges 1939-1945, Hg. Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart 2007; Erik Verg Unter der blauen Flagge, Hamburg 1980; Norbert Röth, Rottorf.
PS.: Siehe auch: http://www.unter-blauer-flagge.de
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Andreas
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Re: Die Flüchtlingsdampfer der Reederei H. M. Gehrckens 1945

Beitrag von Andreas »

Hallo Peter,

vorab mal ein riensengrosses Kompliment, ich schätze deine sauber recherchierten Beiträge absolut, Hut ab.
Was ich hier zu bedenken geben möchte, ohne einen geschichtspolitische Diskussion anzureissen ist, dass
durch die Deutsche Kreigsmaschinerie ebensoviele Opfer zu beklagen waren, ich möchte nur die Topedierung
der Laconia erwähnen.

Freundliche Grüsse aus der Schweiz
Andreas Spörri
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Re: Die Flüchtlingsdampfer der Reederei H. M. Gehrckens 1945

Beitrag von Arne J »

Hallo Peter,
vielen Dank für deinen interessanten Bericht. Anbei wollte ich mal erwähnen, das SÖDERHAMN nach dem Krieg der größte verbliebene Frachter unter Flag Charlie (Vorgänger der dt. Flagge) war. Das lag sicherlich daran, dass das Schiff aufgrund seines Alters (Bj 1899) und seiner Größe schon nicht mehr interessant für die alliierten Siegermächte war.

Gruß
Arne
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Re: Die Flüchtlingsdampfer der Reederei H. M. Gehrckens 1945

Beitrag von Arne J »

Hallo Peter,

vorab mal ein riensengrosses Kompliment, ich schätze deine sauber recherchierten Beiträge absolut, Hut ab.
Was ich hier zu bedenken geben möchte, ohne einen geschichtspolitische Diskussion anzureissen ist, dass
durch die Deutsche Kreigsmaschinerie ebensoviele Opfer zu beklagen waren, ich möchte nur die Topedierung
der Laconia erwähnen.

Freundliche Grüsse aus der Schweiz
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Hallo Andreas,
da gebe ich dir bedingt Recht. Möchte aber trotzdem nicht vom Thema abweichen, dass die andere Seite auch sehr viel Menschenunwürdiges getan hat. Da war auch noch ne Geschichte, bei der in den letzten Kriegstagen in der Neustädter Bucht Häftlingsschiffe wie CAP ARCONA und THIELBEK mit Wissen der Alliierten angegriffen und versenkt wurden. Wir wollen hier nicht alles eins zu eins aufrechnen, dennoch dürfen wir nicht vergessen, was für ein Leid dieser verdammte Krieg über die Menschheit gebracht hat.

Siehe auch: http://de.wikipedia.org/wiki/Cap_Arcona

PS: Der Kriegsgewinner schreibt die Geschichte immer zu seinen Gunsten (z.B. Katyn, etc.)!

Gruß
Arne
Peter Hartung
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Die HMG-Flüchtlingsdampfer 1945 - Teil 2

Beitrag von Peter Hartung »

Fortsetzung...

Der Frachtdampfer "PICKHUBEN" (1), 999 BRT 1.1630 tdw - 70,34 x 10, 93 x 4,10 / 4,80 m -1 Dreifach-Expansionsmaschine mit 830 PSi, gebaut von der Werft Union Gießerei AG, Königsberg. Unterscheidungssignale: RFCG - DHTE. Oktober 1923 Stapellauf. Am 9.5.1924 von Union Gießerei AG, Königsberg (Bau-Nr. 198) als PICKHUBEN an H. M. Gehrckens, Hamburg, abgeliefert.

Der Frachtdampfer "Söderhamn" (Unterscheidungssignale RLKF/RBSP/DHVW/DKAC) hatte 1.499 BRT und eine Tragfähigkeit von 2.050 tdw. Das Schiff war 73,40 m lang, 10,40 breit und 4,61/5,34 m tief. Angetrieben wurde die "Söderhamn" von einer Dreifach-Expansionsdampfmaschine mit 650 PSi, die von der Werft gebaut wurde. Am 11.3.1899 war Stapellauf. Abgeliefert wurde der Dampfer am 3.5.1899 von der Helsingör Jernskib & Maskinbyggeri, Helsingor (Bau-Nr. 76) als "SÖDERHAMN" an H. M. Gehrckens, Hamburg.

Bild
Faksimile mit Auszügen aus dem Original-Notizbuch von Kapitän Kurt Timm. Quelle: Erik Verg Unter der blauen Flagge, Hamburg 1980.

Diese Aufzeichnungen dokumentieren sieben Reisen der "SÖDERHAMN", beginnend am 30. Januar 1945 (der Tag, an dem die "Wilhelm Gustloff" versenkt wurde) mit Abgang von der Danziger Werft bis zur siebenten Reise, ankommend im Scheerhafen in Kiel am 8. April 1945. Kpt. Timm notierte in dem offenbar von ihm selbst angefertigten Transskript: " Im Allgemeinen hatten wir immer zwischen 2300_2700 Flüchtlinge an Bord!!!" Und am 12. März 1945 notierte Kurt Timm: "Swinemünde (...) 12.08 Uhr - 13.20 Uhr voller Bombenhagel aller Kaliber 1. Offz. Herbert Jonas und 1.Ing.Hans Bebert im Bombenhagel umgekommen und franz.Trimmer Gareis vermisst."

Bild
Original-Scan des alten Transskripts der Notizbuch-Aufzeichnungen von Kapitän Kurt Timm, die er selbst abgetippt hat. Quelle: Sammlung Kapitän Oliver Timm, Moers

Wird fortgesetzt...

Gestattet mir diese Zusatzbemerkung:

Als die sowjetische Offensive begann, löste die SS die Außenlager des Konzentrationslagers Stutthof in Ostpreußen auf. Von Königsberg aus trieb man die etwa 7.000 überlebenden jüdischen KZ-Häftlinge aus der ganzen Provinz am 26. Januar in Richtung Samland. Auf dem Todesmarsch an die Bernsteinküste wurden mehr als 2000 Menschen, die vor Erschöpfung zusammenbrachen, von den Wachmannschaften erschossen. In Palmnicken angekommen, jagte man die restlichen 5.000 Überlebenden am 30. Januar in die eisige Ostsee und ermordete sie mit Maschinengewehren. Nur 15 Menschen überlebten das Massaker. Es war just jener 30. Januar 1945, an dem die "Wilhelm Gustloff" vor der Küste Pommerns mit 10.000 Flüchtlingen an Bord versenkt wurde und die "SÖDERHAMN" von der Danziger Werft mit ca. 2.500 Flüchtlingen ablegte mit Ziel Swinemünde, wo diese Menschen am 2. Februar 1945 unversehrt an Land gehen konnten.
(Quelle ist der u.a. ZEIT-Artikel.)

mfg Peter Hartung

PS.: Lesenswert als Hintergrund zu den damaligen Ereignissen ist dieser Artikel aus der "ZEIT": http://www.zeit.de/2008/10/A-Ostpreussen?page=all
Zuletzt geändert von Peter Hartung am So 6. Apr 2008, 13:16, insgesamt 4-mal geändert.
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Peter Hartung
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Re: Die Flüchtlingsdampfer der Reederei H. M. Gehrckens 1945

Beitrag von Peter Hartung »

Guten Abend!

Betrachtet dies bitte als meinen ganz subjektiven Zwischenruf:

Glaubt mir bitte, dass, je näher man sich dem Sachgegenstand annähert, die Dimensionen der damaligen Gewaltverhältnisse umso schrecklicher aufscheinen. Ich entnehme diesen Eindruck auch Euren Kommentaren, die hier ausdrücklich erwünscht sind. Vielleicht fassen die nachfolgenden Worte von Elie Wiesel das heutige Entsetzen über die damaligen Ereignisse am besten:

Der Gegensatz von Liebe
ist nicht Haß,
der Gegensatz von Hoffnung
ist nicht Verzweiflung,
der Gegensatz von gesundem Menschenverstand
ist nicht Wahnsinn,
der Gegensatz von Erinnern
heißt nicht Vergessen,
sondern es ist nichts anderes
als jedes Mal: Gleichgültigkeit.

Ich wünsche Euch eine gute Nacht.

mfg Peter Hartung
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Peter Hartung
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Re: Die Flüchtlingsdampfer der Reederei H. M. Gehrckens 1945

Beitrag von Peter Hartung »

Fortsetzung der Aufzeichnungen von Kurt Timm, Kapitän des Flüchtlingsdampfer "SÖDERHAMN", Teil 2

Danziger Werft, 30. Januar 1945:

(...) "Dann warteten wir aber mehrere Stunden auf die Flüchtlinge, und endlich erfuhr ich, daß der Pförtner keine Menschen in das Werftgelände herein ließ. Vom nächsten Telefon aus sprach ich dann mit dem Herrn, und damit war das Mißverständnis denn auch sehr schnell bereinigt! Bald darauf kamen die teilweise halberfrorenen Menschen durch den stellenweise meterhohen Schnee bei minus 14 bis 18 Grad zu uns an Bord. Aber warm war es ja auch an Bord nicht, obwohl unsere Luken weitgehend zugedeckt waren. Allmählich wurde es nach kurzer Zeit doch recht anheimelnd durch die vielen Menschen. Natürlich wurden die Ärmsten gleich weitgehend versorgt.

Keiner kam zu kurz. Gottlob bekamen wir am nächsten Morgen von Kapitän Piening vom Verpflegungsamt eine hervorragende Verpflegungsausrüstung aus Gotenhafen. Das war großartig! Auf der letzten Flüchtlingsreise fuhr er mit mir nach Kiel.

Wir hatten auf dieser ersten Reise ca. 2.800 Menschan an Bord, darunter ungefähr 125 Kinder unter zwei Jahren. Das Jüngste war sieben Tage alt und auf dem Eis geboren. Die Frau saß mit vier anderen Frauen im warmen Salon auf dem Sofa, daher weiß ich das noch so genau! Auf der Bank und auf Stühlen saßen andere Frauen mit ihren Babies im Arm. Unter dem Tisch und auf dem Tisch sowie unter den Stühlen saßen oder lagen überall größere Kinder. Hier war es ja warm. In meiner verbreiterten Koje lagen vier oder fünf ganz kleine Babies. Eines lutschte am Daumen, das daneben liegende schrie wie am Spieß und ein weiteres Baby hielt Arme und Beine hoch und sagte ganz leise: "Mama - Pappa!" Das vierte Baby lag schön ruhig und zugedeckt und schlief wie ein Murmeltier. Vergißt man so etwas einmal wieder? Ich nicht!"

Bild
Kurt Timm (linkes Foto von 1932; rechtes Foto von 1949). Bildnachweis: Sammlung: Oliver Timm, Moers.

Wird fortgesetzt.

mfg
Peter Hartung
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Peter Hartung
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Re: Die Flüchtlingsdampfer der Reederei H. M. Gehrckens 1945

Beitrag von Peter Hartung »

Fortsetzung der Aufzeichnungen von Kurt Timm, Kapitän des Flüchtlingsdampfer "SÖDERHAMN", Teil 3

Im folgenden schildert Kurt Timm in einem Rückblick auf die Ereignisse vom 19. November 1944, wie es dazu kam, dass die "SÖDERHAMN" in die Danziger Werft musste und zum Flüchtlingsschiff wurde:

"Draußen vor Gotenhafen lagen wir vor Anker. In der dunklen aber klaren Nacht wollte ich nicht zwischen die
direkt vorm Hafen liegenden Schiffe fahren. Wir fuhren etwas nördlich und gingen dort vor Anker. Unsere
abgeblendeten Ankerlaternen brannten klar und hell. Es wehte ein scharfer Südost-Wind, etwa Stärke 6 bis 7. Und
nun möchte ich doch auf das schlimme Erlebnis zurückkommen, welches die eigentliche Ursache unserer Reparatur in
der Danziger Werft war und zu dem ersten Flüchtlingstransport geführt hat. Wir kamen von Windau und Libau,
hatten nur einige Flüchtlinge, aber im Raum 3 sehr viel Post. Und eben diese Post, die bestimmt oft einen
letzten Gruß an Frau und Kind enthielt, ging verloren. Am 19. November gegen 22 Uhr sichteten wir einen
von Nordost kommenden größeren Dampfer, der mit Kurs Gotenhafen ziemlich auf uns zulag. Also Gefahr für uns. Wir
schalteten unsere helle Morselampe an, aber leider wurde sie garnicht von dem fremden Dampfer beachtet. Er blieb
konstant mit Kurs und Geschwindigkeit. In allerletzter Sekunde gelang es mir duch ein "Voll Voraus" - Manöver
unser Schiff soweit voraus zu ziehen, daß der Rammstoß nicht in der Maschine, sondern in Raum 3 erfolgte. Dieser
Raum lief natürlich sofort voll Wasser, aber unser starkes Schott zum Maschinenraum hielt den großen Druck stand
und wir gingen nicht in die Tiefe. Das fremde Schiff hatte mit voller Fahrt unsere Bordwand von den Bilgen bis
an die Reeling aufgerissen. Per Funk sprach ich dann mit Kapitän Piening in Gotenhafen, der fix bei der Hand war
und uns sofort zwei Schlepper zur Hilfe schickte, die uns dann glücklich nach Gotenhafen brachten. Hier machten
wir an der Innenseite der Mole fest."

wird fortgesetzt.

mfg Peter Hartung
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Jochen
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Re: Die Flüchtlingsdampfer der Reederei H. M. Gehrckens 1945

Beitrag von Jochen »

Peter,
wenn Du das Grauen dieser Zeit noch etwas näher beleuchten willst, lies den Kempowski, die fuga furiosa aus der Zeit des Winters '45. Da wird in einigen Briefen immer wieder von der Flucht per Schiff berichtet, die Namen der von Dir genannten Dampfer sind mir zwar erinnerlich, aber sie müssen zumindest dabeigewesen sein, einige Schilderungen decken sich.
Herzlichen Dank für Deine Arbeit, Du wirst wissen, das sie sehr geschätzt wird.
Gruß Jochen
Peter Hartung
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Re: Die Flüchtlingsdampfer der Reederei H. M. Gehrckens 1945

Beitrag von Peter Hartung »

Fortsetzung und Schluss:

Walter Kempowski dokumentierte u. a. in seinem Werk "Das Echolot" die Erinnerungen an die "Söderhamn" von Irene Burandt (geboren 1927) wie folgt:

"Danzig 30.1.1945 (...) Wir nahmen unseren Weg zum Danziger Hafen zu unserem Schiff "Söderhamm". (...) Beinahe hätten wir einen Platz auf der «Deutschland», einem großen Passagierschiff, bekommen, es klappte aber im letzten Moment doch nicht mehr. Vor uns war gerade die «Gustloff» mit 5.000 Flüchtlingen an Bord losgefahren. (...) Mit Mutti und mir waren noch 2 andere bekannte Mütter mit ihren jeweils 2 und 4 kleinen Kindern aus der Nachbarschaft mitgezogen. Sie suchten sich mit Mutti dichtgedrängt im Unterdeck ein Lager auf Stroh, während ich in der Krankenstube, in der Kapitänskajüte, unterkam. In der Kajüte bekam ich einen Platz auf dem Plüschsofa, neben mir eine junge Mutter, die ihren ein paar Tage alten Säugling in einem Wäschekorb auf dem Tisch vor sich stehen hatte, und auf der anderen Seite neben mir eine über 80-jährige alte Oma. Rundherum um den Tisch saßen dichtgedrängt Kranke auf Stühlen.(...) Die Fahrt ging im Geleitzug mit mehreren Flüchtlingsschiffen, Schnellbooten und U-Booten los.(...) Durch den Seegang waren viele Menschen seekrank geworden und hatten sich auf den Boden in das Stroh erbrochen. (...) Unser Kapitän deutete in einer kurzen Bemerkung an, daß etwas ganz Schlimmes passiert sein müsse. Wie wir später erfuhren, war die "Gustloff" mit 5.000 Flüchtlingen an Bord in derselben Nacht ungefähr auf unserer Höhe nicht weit von uns entfernt durch ein russisches U-Boot versenkt worden."

Stolpmünde, 7./8. März 1945:

"Meine Familie und Omi und Tante Anna waren mit Glück im Februar 1945 mit einem Schiff (Frachter Pik-Huben aus Hamburg) nach Stralsund (von Stolpmünde über Swinemünde) gekommen. Von dort kamen sie dann weiter nach Wismar", notierte nach dem Krieg Kurt Schwarz aus Stolp. (Nach einer Mitteilung seines Enkels Andreas Meininger, Kornwestheim, vom 4.4.2008).

"Am 7. März - dem letzten Tag vor der Besetzung - erreichte das Geschehen seinen Höhepunkt. Ganz deutlich schon hörte man die Abschüsse und Einschläge der Artillerie und den Gefechtslärm der nahen Front. Die Kriegsmarinedienststelle Danzig hatte den "erhöhten Anlauf" der Schiffe zu 7 Uhr morgens angesetzt. Ein großer Teil der Schiffe traf schon in der Nacht ein.
Im Hafen lagen schließlich 14 Schiffe (in Stolpmünde): Die Dampfer "Söderhamm" (1499 BRT), "Reiher" (1304 BRT), "Nautik" (1127 BRT), "Pickhuben" (999 BRT), "Karlsruhe" (897 BRT), das Navigationsschiff "Nadir" ex "Schwalbe" (842 BRT), das Navigationsschiff "Oktant" (800 BRT), die "Kolberg" (693 BRT), die "Amrum" (670 BRT), die "Martha Geiss" (531 BRT), das Schulschiff "Nordpol" ex "Siegfried" (500 BRT), das Navigationsschiff "Sextant" (198 BRT), die "Bernd" und die "Vicking".

Ferner standen Saugbagger "Stolpmünde", 24 Marine-Fischkutter sowie Fahrzeuge der 5. Sicherungsflottille für den Abtransport zur Verfügung. Die Schiffe wurden über und über mit Flüchtlingen belegt. Wegen des Sturmes blieben sie vorerst im Hafen liegen. Als im Laufe des Abends die Front näher an den Ort herankam, verließ ein Teil der Schiffe trotz der Sturmgefahr den Hafen. Insgesamt waren es zehn Schiffe mit 4.820 Flüchtlingen an Bord. Am folgenden 8. März gingen auch die restlichen Schiffe mit 7890 Flüchtlingen an Bord trotz heftiger Sturmböen in See, da die Russen schon sehr nahe an den Ort herangekommen waren. Ein vollbesetzter Fährprahm, der sich als letzter der langen Kette der Schiffe anschloß, wurde auf offener See in die Tiefe gerissen. In den letzten Tagen sind aus Stolpmünde noch 18310 Flüchtlinge, Soldaten und Verwundete herausgekommen, seit dem 15. Januar insgesamt 32.780 Menschen."

Quelle: Karl-Heinz Pagel, Der Landkreis Stolp in Pommern - Zeugnisse seiner deutschen Vergangenheit, o.O., o. J. Karl-Heinz Pagel, Der Landkreis Stolp in Pommern - Zeugnisse seiner deutschen Vergangenheit, o.O., o. J.

Kapitän Kurt Timm schilderte in seinen Erinnerungen die Ereignisse in Stolpmünde folgendermaßen:

"Als letztes größeres Schiff aus dem Hafen von Stolpmünde

In allergrößter Eile wurden wir mit Dampfer "Söderhamn" nach Stolpmünde beordert, um die vom Westen her abgeschnittenen verzweifelten Flüchtlinge abzuholen. Es war schon recht schlimm. Denn schon während wir in den Hafen einliefen, hörten wir das garnicht so weit entfernte Geschützfeuer der Front. Schnellstens machten wir
unser Schiff fest und dann stürzten die armen Menschen sich in aller Hast an Bord; aber es verlief reibungslos und ohne Panik! Meine so gute Besatzung half an allen Ecken und Enden, so viel wie sie nur konnte! Alle wollten ja mit und die armen Menschen hatten ja auch alles, was sie besaßen, im Hause zurück lassen müssen. Trotzdem ging alles geregelt vor sich. Aber allmählich mußten wir dann doch mit der Übernahme der Flüchtlinge aufhören und als ich dann endlich den großen Landgang wegzunehmen, hielten mir eine große Anzahl der Frauen ihre Kinder mit ausgestreckten Armen entgegen und baten, wenigstens die Kinder mitzunehmen. Da war ich aber auch fertig! Man konnte schon das Heulen kriegen, angesichts dieser großen Not. Mit den Gedanken: das ist doch das Letzte, was eine Mutter für ihr Kind tun kann. Zwischendurch ging ich nach der anderen Seite der Brücke, um mal einen anderen Anblick zu haben, als dieses grenzenlose Elend und die Verzweiflung. Während wir mit dem Achterschiff voraus in ein anderes Hafenbecken verholten, ließ ich dann doch noch für eine kurze Zeit den Landgang aussetzen und es kamen noch einige Leute schnell an Bord. Unter den vielen Menschen, die wir nun an Bord hatten, befand sich auch das Ärzteteam vom Stolper Krankenhaus. Als ich im weiteren Verlauf der Reise den Herren sogar zufälligerweise mit einer langen Knopfkanüle aushelfen konnte zur Wundbehandlung, meinte der Chefarzt: "Sagen Sie mir bitte einmal, wann können Sie eigentlich nicht helfen?" Bei der Kranken, bei welcher diese Kanüle benötigt wurde, handelte es sich um die kleine Krankenschwester Auguste Neumann. Sie war die Betreuerin von ca. vierzehn oder fünfzehn kleinen Kindern. Die von ihr gesammelten hilflosen kleinen Kinder waren ohne jeden Anhalt. Aber eben diese Schwester war mit Oberschenkelverletzung allerschwerster Art in unserem "Behelfslazarett". Natürlich freute ich mich über diese Anerkennung sehr. Als wir später in Swinemünde unsere Stolper Flüchtlinge abgegeben hatten, kam dann noch der wahnsinnige Angriff auf Swinemünde; (...)

+++

mfg
Peter Hartung
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